Jeder Haarforumsuser weiß felsenfest, dass früher (TM) ALLE Frauen laaaaaaaange Haare hatten ☝️🤓
Stimmt das?
Eindeutig Jein.
Lange Zeit, zumindest von Frühmittelalter bis in die 1940er Jahre hinein, waren lange, gesunde und am besten noch dicke Haare ein Statussymbol - die waren das Zeichen dafür, dass ihre Besitzerin einigermaßen gesund und nicht allzu schlecht ernährt war, und dazu nich Zeit und Geld für deren Pflege und womöglich noch für Schmuck ausgeben konnte.
Wir reden hier von Zeiten, in denen man Gefangenen, Sklaven und (bis nach dem Zweiten Weltkrieg) "gefallenen Mädchen" den Kopf schur.
Für einen modischen Bob musste frau schon cojones haben.
Auch wenn der Läuse- und Flohbefall zu arg wurde (der Menschenfloh ist mittlerweile aufgrund besser Hygiene praktisch ausgestorben), wurde oft die Schere angesetzt.
Und wer zu wenig Eigenhaar hatte, kaufte einer Bedürftigen deren Haar ab - in Les Miserables verkauft Fantine ihr Haar; selten war das keineswegs.
Ja, aber die viktorianischen Bilder von den Damen mit den bodenlangen Supermatten, wat is damit, hö???
Diese Frauen gab es, die Fotos sind echt.
Aber: diese Frauen sind alle sehr gut gekleidet, dementsprechend eher nicht die überarbeitete Fabrikarbeiterin oder das verhuschte Dienstmädchen.
Wohlhabend ist aber seinerzeit auch praktisch gleichbedeutend mit: diese Frau konnte sich regelmäßig satt essen, sie konnte zum Arzt gehen und hatte zur Haarpflege mit Sicherheit die Hilfe von Zofe oder Dienstmädchen.
Zusätzlich waren Fotografien neu, aufwendig und teuer - die konnte sich nicht jeder leisten, und selbst wohlhabende Menschen haben sich nicht oft fotografieren lassen.
Jetzt behält man überdies noch im Hinterkopf, dass es auch heute noch, in einem Zeitalter, in dem auch sozial schlechter gestellte Menschen Zugang zu einer ärztlichen Versorgung haben, von der die Viktorianerinnen nicht mal träumen konnten, sich auch Alte und Arme täglich satt essen können, jedes Haus und jede Wohnung warmes Wasser aus der Leitung hat und man für buchstäblich n bisschen Kleingeld ein anständiges Shampoo in jedem Laden bekommt, das auch heute noch in Langhaarforen nur ganz, ganz wenige User*innen solche Längen erreichen.
Einfach deshalb, weil extrem langes Haar ein genetischer Ausnahmefall ist.
Die Sutherland Sisters wurden nicht zu Stars, weil sie so tolle Sängerinnen waren, sondern weil die sieben Schwestern alle sehr, sehr langes, üppiges Haar hatten.
Kurz: diese Frauen waren schon damals Exotinnen, sozial besser gestellte, genetische Ausreißer; deswegen wurden sie fotografiert, als besonders begehrenswerte Ausnahmen von der Regel. Freakshow-Pinups.
Aberaberaber, voluminöse aufwendige Hochsteckfrisuren! Was sachste nu?
Auch das sind echte Bilder, und auch hier gibt's eine einfache Erklärung: diese Frisuren waren modern.
Und weil auch damals längst nicht jede modebewusste Dame ausreichend Eigenhaar dazu hatte, gab's in den Frauenzeitschriften jener Zeit neben der neusten Pariser oder Londoner Mode neben zahlreichen Haarwachstumswundermittelchen und hautaufhellender Seife auch ein breites Sortiment an speziellen Steckkämmen, vorbereiteten Haarteilen, Zöpfen, Tressen, Löckchen, Ponys, die Madame sich dazu kaufen konnte.
Glaubt Ihr mir nicht? Seht selbst: antiquepatternlibrary.com
Man kann diese Bilder so betrachten, wie sie von Zeitgenoss*innen betrachtet wurden: mit Staunen und einem gerüttelt Maß Neid, nicht als den Normalfall.